Spinale Muskelatrophie: Hoffnung durch Antisense-Technik

Mithilfe einer neuartigen genetischen Technik ist es Wissenschaftlern erstmals gelungen, das Fortschreiten der Spinalen Muskelatrophie (SMA) bei Säuglingen und Kleinkindern zu verlangsamen – einer fatalen und bislang kaum aufzuhaltenden neurodegenerativen Erkrankung. „Dies ist eine vielversprechende Behandlungsmethode für die häufigste genetische Todesursache im Kindesalter“, so Prof. Christine Klein, Leiterin des Instituts für Neurogenetik an der Universität Lübeck und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Darüber hinaus könne man davon ausgehen, dass die hier genutzte Methode der Antisense-Technik auch für andere Erkrankungen und Indikationen angepasst werden und dort ebenfalls erfolgreich sein könnte.

Den Beweis, dass die Antisense-Technik funktionieren kann, haben nordamerikanische Neurologen mit einer Studie erbracht, über die sie in der Fachzeitschrift The Lancet berichten. Insgesamt 20 Säuglinge, die zwischen der dritten Lebenswoche und dem sechsten Lebensmonat an der Spinalen Muskelatrophie erkrankt waren, haben Richard S. Finkel vom Nemours Children´s Hospital und seine Kollegen behandelt.

Ursache der Erkrankung war in allen Fällen ein fehlendes bzw. defektes Gen für einen Nerven-Schutzfaktor (Survival Motor Neuron 1, SMN1). Ohne dieses Eiweiß gehen die Motoneuronen des Rückenmarks und des Hirnstammes zugrunde, die die Bewegungen einschließlich des Schluckens und des Atmens kontrollieren. Die Folgen sind fatal: Nicht einmal ein Viertel der Kinder überlebte bislang ohne künstliche Beatmung die Diagnose um mehr als zwei Jahre.

Vor diesem Hintergrund erhielten alle Teilnehmer den Wirkstoff Nusinersen in Form mehrerer Injektionen ins Nervenwasser des Rückenmarks. Zwar verstarben vier der 20 Babys trotz der Behandlung. Zum Zeitpunkt des Berichtes aber waren 16 noch am Leben. 13 von ihnen konnten ohne fremde Hilfe atmen, und bei 14 hatte sich die Muskelfunktion gebessert. Teilweise konnten diese Kleinkinder nun den Kopf aufrecht halten, greifen, stehen und sogar laufen. Solche Veränderungen hatte man bislang bei unbehandelten Kindern mit dieser Form von SMA nicht beobachtet. „Eine Heilung bedeutet das nicht“, sagt Prof. Klein, „aber die Therapie scheint wirksam zu sein.“

Die Neurologin hebt hervor, dass der molekulare Mechanismus der Methode wie geplant funktioniert hat: Nusinersen ist ein synthetisch hergestelltes Molekül, das spezifisch konstruiert wurde um ein Ersatzgen für SMN1 zu aktivieren, das fast baugleiche SMN2. Es könnte theoretisch ebenfalls den Nerven-Schutzfaktor liefern, der die Motoneuronen am Leben hält. Allerdings enthält SMN2 einen „Webfehler“, der die Übersetzung der Erbinformation in das rettende Eiweiß um 75 bis 90 Prozent verringert.

Diesen Webfehler konnte Nusinersen offenbar beheben. Das von Wissenschaftlern der Firma Ionis hergestellte synthetische Molekül heftet sich an einer genau vorausberechneten Stelle an ein Zwischenprodukt (Boten-RNS), welches die in SMN2 enthaltenen Erbinformationen an die Eiweißfabriken der Zellen übermittelt. Nusinersen verhindert dadurch, dass aus der SMN2-Boten-RNS ein Abschnitt entfernt wird und die Erbinformation unbrauchbar wird. Die Menge korrekt übersetzter Boten-RNS stieg um das 2,6-fache auf einen Anteil von 50 bis 69 %. Durch Messungen der Eiweißkonzentration im Rückenmark konnten die Forscher schließlich noch zeigen, dass die in dieser Studie behandelten Kinder um durchschnittlich 63,7 % Prozent mehr SMN-Protein bildeten, als unbehandelte Kinder.

Die Nebenwirkungen des Verfahrens wurden von den Patienten gut toleriert, sodass die genetische Therapie von Prof. Klein als „in akzeptabler Weise sicher“ eingestuft wird. Eine weitere, noch nicht veröffentlichte Studie mit Nusinersen bei älteren Patienten mit SMA war ebenfalls erfolgreich, teilte die Hersteller-Firma Ionis mit. Und unmittelbar vor Weihnachten gab die US-Zulassungsbehörde FDA bekannt, dass Nusinersen unter dem Handelsnamen Spinraza für die Behandlung der SMA sowohl bei Säuglingen als auch bei Erwachsenen zugelassen wurde (Inzwischen liegt auch eine Zulassung der europäischen Arzenimittelbehörde EMA vor).

„Als das weckt begründete Hoffnung auf die so lange erwartete Wende in der translationalen Anwendung von Erkenntnissen aus der Molekulargenetik von der reinen Diagnostik hin zu klinisch-therapeutischen Anwendungen im Sinne einer personalisierten Medizin“, so Prof. Klein. Die Antisense-Technik könne auch auf andere Erkrankungen angepasst werden, erwartet die DGN-Vizepräsidentin.

Während bei SMA die Übersetzung eines „schwachen“ Gens gefördert wird, ließe sich stattdessen auch das Ablesen schädlicher Gene verhindern. Im Tierversuch ist dies beispielsweise bei Mäusen schon gelungen, die als Modell für die Huntington´sche Krankheit dienten. Aber auch in klinischen Studien wurde und wird die Antisense-Technik bereits erprobt, beispielsweise gegen die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Rheuma, Asthma, Morbus Crohn sowie eine Vielzahl von Krebserkrankungen.

(Vorlage für eine Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 5. Januar 2017)

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