Der Einsatz von Nootropika zur Behandlung von Hirnleistungsstörungen im Alter und hirnorganischem Psychosyndrom wurde ursprünglich mit großer Skepsis bedacht. Dennoch wird diese Medikamentengruppe in den neunziger Jahren wahrscheinlich das dynamischste Wachstumsgebiet im Bereich der Neuropsychopharmaka darstellen.
Über 600 Teilnehmer aus 15 Ländern waren im April in Athen zusammengekommen, um eine Bilanz über Piracetam, den „klassischen“ Vertreter dieser Medikamentenklasse, zu ziehen. Veranstalter des Symposiums „Piracetam: 5 Years Progress in Pharmacology & Clinics“ war die griechische Gesellschaft für Neurologie, als industrieller Sponsor trat das belgische Pharmaunternehmen UCB auf, das Piracetam als Nootrop® anbietet.
In seiner Begrüßungsansprache wies der Entdecker des Piracetams, Prof. Dr. Corneliu Giurgea (Universität Louvain, Belgien), darauf hin, dass dem Baby-Boom der siebziger Jahre ein „Geriatrie-Boom“ folgen müsse, der etwa um das Jahr 2010 zu erwarten sei. Zwar ist der Wirkungsmechanismus des Piracetams, das mit der Gammaaminobuttersäure verwandt ist, noch immer unbekannt, doch weiß man, dass sich dessen günstiger Effekt auf den gestörten Energiestoffwechsel des Gehirns unter anderem in der Stimulation des oxidativen Glukoseabbaus, Erhöhung von ATP-Umsatz und cAMP-Spiegel sowie einem verstärkten Phospholipidstoffwechsel manifestiert.
Zwei zusammenfassende Analysen über Wirkungen und Nebeneffekte dieses Nootropikums präsentierte Dr. Walter Deberdt (Medical Advisor UCB, Belgien). Die Resultate von 18 doppelblinden, plazebokontrollierten Studien an insgesamt 1195 älteren Patienten legten nahe, dass Piracetam zu einer generellen Verbesserung des zerebralen Alterungsprozesses führen könne, so Deberdt.
Die Auswertung von 57 Studien an 3372 Patienten ergab eine signifikante Häufung von Nebenwirkungen für die Piracetam-Behandlung, besonders bei Dosen von 4,8 Gramm täglich. So waren Hyperaktivität, Schlaflosigkeit, Nervosität, Somnolenz, Depressionen und Angstgefühle vermehrt zu beobachten. Da jedoch die Inzidenz der Nebenwirkungen niedrig sei (das Maximum bildete Hyperaktivität bei fünf Prozent der Patienten), überwiegt nach Deberdts Meinung der klinische Nutzen einer Piracetam-Behandlung das Risiko bei weitem.
Mehrere randomisierte, doppelblinde Studien belegten diesen Anspruch. So untersuchte Dr. Liliane Israel (CH.R.U. Grenoble, Frankreich) den Einfluss von Piracetam in Kombination mit Gedächtnistrainingsprogrammen auf 162 Patienten mit altersbedingten Gedächtnisstörungen (AAMI = Age Associated Memory Impairments).
Drei Gruppen von je 54 Patienten im durchschnittlichen Alter von 66 erhielten über einen Zeitraum von drei Monaten Placebo oder Piracetam in Dosen von 2,4 oder 4,8 Gramm täglich. Außerdem wurden die Patienten einmal wöchentlich in Gruppen zu zehn Personen von einem Psychologen im Gedächtnistraining unterwiesen. Die Bewertung der Gedächtnisfunktion wurde schwerpunktmäßig anhand der Vergeßlichkeit vorgenommen und psychometrisch (durch Bewertungsskalen, Fragebögen und Tests) sowie klinisch (basierend auf dem Urteil von Psychologe, Arzt und Patient) gemessen.
In der abschließenden Bewertung durch den Psychologen (gestaffelt in: keine, geringe, mittlere und starke Verbesserung) zeigte sich bei Patienten, die 4,8 Gramm Piracetam eingenommen hatten, eine starke Verbesserung in 42,5 Prozent der Fälle, und eine mittlere Verbesserung in 51 Prozent der Fälle. Bei Einnahme von täglich 2,4 Gramm Piracetam betrugen die entsprechenden Werte 11,5 und 70,5 Prozent (Plazebo: 2 und 20 Prozent). Bei Einnahme von täglich 4,8 Gramm Piracetam zeigten 53,5 Prozent der Probanden eine klinisch relevante Verbesserung der Gedächtnisfunktion. Für eine Dosis von 2,4 Gramm betrug dieser Wert 38 Prozent, und für Plazebo 22 Prozent.
Da die nachweisbaren Responderraten für die gegenwärtig verfügbaren Nootropika eher niedrig sind, sei es wichtig, für diese Medikamentenklasse eine Beziehung zwischen Kosten und Nutzen zu demonstrieren. Diese Meinung vertrat Prof. Dr. Werner Martin Herrmann (Arzneimittelforschung GmbH, Berlin), der sich mit den Auswirkungen einer Piracetam-Behandlung auf das Alltagsleben der Patienten befasste, beispielsweise auf das Ausmaß der Hilfsbedürftigkeit, auf sinnvolle Beschäftigung und Interaktion mit anderen Personen.
Herrmann erläuterte die Ergebnisse einer Phase-III-Studie an 130 stationären geriatrischen Patienten mit Hirnleistungsstörungen. Über einen Behandlungszeitraum von 12 Wochen erhielten jeweils die Hälfte der Patienten im Alter von 65 bis 85 Jahren täglich 4,8 Gramm Piracetam oder Placebo. Beurteilungsgrundlage für die Abschätzung des Behandlungserfolgs war vorwiegend eine Skala auf der Grundlage von ADL-(Activities of daily living). So wurde beispielsweise die „Hilfsbedürftigkeit des Patienten“ in der Beurteilung des Pflegepersonals betrachtet. Hier wurde nach Änderungen bei Aktivitäten wie Waschen, Anziehen, Essen oder Toilette gefragt, aber auch nach sinnvoller Beschäftigung und Interaktion mit anderen Personen. Während sich unter Placebo 23 Patienten verbesserten und 18 verschlechterten, besserten sich unter Piracetam 55 Patienten bei nur einer Verschlechterung. Herrmann ist der Meinung, dass diese deutliche Verbesserung auch außerhalb des klinischen Milieus Bedeutung haben dürfte. Wenn eine unterstützende Nootropika-Therapie die Pflegeabhängigkeit auch nur der Hälfte der Patienten geringfügig verringern würde, so die Argumentation, würde dies bereits eine entscheidende Möglichkeit eröffnen, den Anteil an sozialen Aktivitäten mit dem Pfleger zu erhöhen.
Der progressive Verlust der Autonomie stellt eines der größten Probleme des Alters dar. Die vollständige Auswertung einer Untersuchung aus dem Jahr 1986 über das Fahrverhalten älterer Personen fand daher besondere Beachtung. Die von Dr. Elke Ludemann (Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Verkehrsmedizin und Verkehrspsychologie, Köln) vorgetragene Untersuchung hatte ihren Schwerpunkt in der Fahrverhaltensbeobachtung unter realen Verkehrsbedingungen mit Beobachtungs- und Meßzeiten von durchschnittlich 110 Minuten pro Testfahrt.
Ein Vergleich des Fahrverhaltens älterer Menschen mit dem am wenigsten unfallbelasteten Altersbereich (30 bis 50 Jahre) zeigt eine Verlagerung des Risikopotentials von überhöhter Geschwindigkeit auf die Vorfahrtsverletzungen an Kreuzungen. 101 Kraftfahrer mit einem Durchschnittsalter von 62,2 Jahren, deren Reaktions- und Orientierungsleistungen am Wiener Determinationsgerät 50 Prozent oder weniger entsprachen, erhielten täglich 4,8 Gramm Piracetam oder Plazebo. Nach Abschluß des sechswöchigen Behandlungszeitraumes ergab sich beim Parameter „Orientierung“, der in enger Beziehung zu hohen Unfallzahlen steht, eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Leertest für die Piracetamempfänger. Der Prozentsatz der richtig gelösten Aufgaben verbesserte sich signifikant von 77 auf 84 Prozent, während die Leistungen der Placebo-Empfänger unverändert blieben.
Neben einer Vielzahl von Studien über die Wirksamkeit des Piracetams bei akuten zerebralen Schädigungen, die an kleinen Patientenkollektiven vorgenommen wurden und sich oft an der Grenze zur Signifikanz bewegten, präsentierte Prof. Dr. Horst Herrschaft (Chefarzt der Neurologischen Klinik des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Lüneburg) das Ergebnis einer randomisierten Doppelblindstudie mit 44 Patienten im Alter von 29 bis 80 Jahren mit ischämischen zerebralen Insult. Zusätzlich zur Standard-Hämodilutionstherapie erhielten die 23 Patienten der Verumgruppe während der ersten zwei Behandlungswochen dreimal täglich 4,8 Gramm Piracetam i.v., danach für weitere zwei Wochen 4,8 Gramm Piracetam täglich oral.
Alle Parameter zeigten eine Überlegenheit der Piracetambehandlung, für Paresen, Aphasien, Bewusstseinsstörungen und das EEG statistisch signifikant. Die Gesamtbesserungsrate unter der Kombinationstherapie Dextran/Piracetam übertraf die Standardtherapie um 30 Prozent, ein Ergebnis, das auch von klinischer Relevanz sein dürfte.
(Mein erster Artikel für das Deutsche Ärzteblatt, erschienen in gekürzter Form am 26. Juli 1990. Letzte Aktualisierung am 14. März 2017)
Quelle: Symposium Piracetam: 5 Years Progress in Pharmacology & Clinics. Athen, 29. April 1990. (Reisekosten und Unterkunft wurden bezahlt von UCB)
Was ist daraus geworden? Der Begriff Nootropikum ist unscharf, und Piracetam wird heute eher als Antidementivum eingeordnet, also als ein Mittel gegen Gedächtnisstörungen. Der „Geriatrie-Boom“, den Prof. Giurgea für das Jahr 2010 vorhergesagt hatte, ist tatsächlich eingetroffen. Die wohl schwerste Hirnleistungsstörung im Alter – die Alzheimer-Demenz – wird heute indes mit anderen Medikamenten behandelt.
Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft stellte im Jahr 2004 fest, dass viele der älteren Studien mit Piracetam methodische Schwächen hätten. Dort wird auch auf eine Literaturanalyse der Cochrane Collaboration verwiesen, wonach Piracetam zwar den klinischen Gesamteindruck verbessert, nicht aber die Hirnleistung.
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie listet Piracetam in ihrer 2016 veröffentlichten Leitlinie Demenz unter „andere Wirkstoffe“ zusammen mit Nicergolin, Hydergin, Phosphatidylcholin (Lecithin), Nimodipin, Cerebrolysin und Selegilin. Sie DGN hält die Beweislage für all diese Substanzen bei der Alzheimer-Demenz für unzureichend, und urteilt: „Eine Behandlung wird nicht empfohlen.“
Unterdessen wird Piracetam von UCB außer unter dem Markennamen Nootrop™ auch als Nootropil®, Noostan™ und Nootropyl™ verkauft, und ist in mehr als 100 Ländern zugelassen. Allerdings wird dieser Wirkstoff auch illegal – das heißt ohne ärztliches Rezept – von gesunden Menschen eingenommen, die sich davon eine höhere Hirnleistung versprechen. Über dieses „Hirn-Doping“ habe ich seitdem mehrfach geschrieben und bin noch immer der Meinung, dass eine Tasse Kaffee mindestens ebenso gut wirkt, besser schmeckt, und keine Nebenwirkungen hat.