Spinale Muskelatrophie: Hoffnung durch Antisense-Technik

Mithilfe einer neuartigen genetischen Technik ist es Wissenschaftlern erstmals gelungen, das Fortschreiten der Spinalen Muskelatrophie (SMA) bei Säuglingen und Kleinkindern zu verlangsamen – einer fatalen und bislang kaum aufzuhaltenden neurodegenerativen Erkrankung. „Dies ist eine vielversprechende Behandlungsmethode für die häufigste genetische Todesursache im Kindesalter“, so Prof. Christine Klein, Leiterin des Instituts für Neurogenetik an der Universität Lübeck und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Darüber hinaus könne man davon ausgehen, dass die hier genutzte Methode der Antisense-Technik auch für andere Erkrankungen und Indikationen angepasst werden und dort ebenfalls erfolgreich sein könnte.

Den Beweis, dass die Antisense-Technik funktionieren kann, haben nordamerikanische Neurologen mit einer Studie erbracht, über die sie in der Fachzeitschrift The Lancet berichten. Insgesamt 20 Säuglinge, die zwischen der dritten Lebenswoche und dem sechsten Lebensmonat an der Spinalen Muskelatrophie erkrankt waren, haben Richard S. Finkel vom Nemours Children´s Hospital und seine Kollegen behandelt.

Ursache der Erkrankung war in allen Fällen ein fehlendes bzw. defektes Gen für einen Nerven-Schutzfaktor (Survival Motor Neuron 1, SMN1). Ohne dieses Eiweiß gehen die Motoneuronen des Rückenmarks und des Hirnstammes zugrunde, die die Bewegungen einschließlich des Schluckens und des Atmens kontrollieren. Die Folgen sind fatal: Nicht einmal ein Viertel der Kinder überlebte bislang ohne künstliche Beatmung die Diagnose um mehr als zwei Jahre.

Vor diesem Hintergrund erhielten alle Teilnehmer den Wirkstoff Nusinersen in Form mehrerer Injektionen ins Nervenwasser des Rückenmarks. Zwar verstarben vier der 20 Babys trotz der Behandlung. Zum Zeitpunkt des Berichtes aber waren 16 noch am Leben. 13 von ihnen konnten ohne fremde Hilfe atmen, und bei 14 hatte sich die Muskelfunktion gebessert. Teilweise konnten diese Kleinkinder nun den Kopf aufrecht halten, greifen, stehen und sogar laufen. Solche Veränderungen hatte man bislang bei unbehandelten Kindern mit dieser Form von SMA nicht beobachtet. „Eine Heilung bedeutet das nicht“, sagt Prof. Klein, „aber die Therapie scheint wirksam zu sein.“

Die Neurologin hebt hervor, dass der molekulare Mechanismus der Methode wie geplant funktioniert hat: Nusinersen ist ein synthetisch hergestelltes Molekül, das spezifisch konstruiert wurde um ein Ersatzgen für SMN1 zu aktivieren, das fast baugleiche SMN2. Es könnte theoretisch ebenfalls den Nerven-Schutzfaktor liefern, der die Motoneuronen am Leben hält. Allerdings enthält SMN2 einen „Webfehler“, der die Übersetzung der Erbinformation in das rettende Eiweiß um 75 bis 90 Prozent verringert.

Diesen Webfehler konnte Nusinersen offenbar beheben. Das von Wissenschaftlern der Firma Ionis hergestellte synthetische Molekül heftet sich an einer genau vorausberechneten Stelle an ein Zwischenprodukt (Boten-RNS), welches die in SMN2 enthaltenen Erbinformationen an die Eiweißfabriken der Zellen übermittelt. Nusinersen verhindert dadurch, dass aus der SMN2-Boten-RNS ein Abschnitt entfernt wird und die Erbinformation unbrauchbar wird. Die Menge korrekt übersetzter Boten-RNS stieg um das 2,6-fache auf einen Anteil von 50 bis 69 %. Durch Messungen der Eiweißkonzentration im Rückenmark konnten die Forscher schließlich noch zeigen, dass die in dieser Studie behandelten Kinder um durchschnittlich 63,7 % Prozent mehr SMN-Protein bildeten, als unbehandelte Kinder.

Die Nebenwirkungen des Verfahrens wurden von den Patienten gut toleriert, sodass die genetische Therapie von Prof. Klein als „in akzeptabler Weise sicher“ eingestuft wird. Eine weitere, noch nicht veröffentlichte Studie mit Nusinersen bei älteren Patienten mit SMA war ebenfalls erfolgreich, teilte die Hersteller-Firma Ionis mit. Und unmittelbar vor Weihnachten gab die US-Zulassungsbehörde FDA bekannt, dass Nusinersen unter dem Handelsnamen Spinraza für die Behandlung der SMA sowohl bei Säuglingen als auch bei Erwachsenen zugelassen wurde (Inzwischen liegt auch eine Zulassung der europäischen Arzenimittelbehörde EMA vor).

„Als das weckt begründete Hoffnung auf die so lange erwartete Wende in der translationalen Anwendung von Erkenntnissen aus der Molekulargenetik von der reinen Diagnostik hin zu klinisch-therapeutischen Anwendungen im Sinne einer personalisierten Medizin“, so Prof. Klein. Die Antisense-Technik könne auch auf andere Erkrankungen angepasst werden, erwartet die DGN-Vizepräsidentin.

Während bei SMA die Übersetzung eines „schwachen“ Gens gefördert wird, ließe sich stattdessen auch das Ablesen schädlicher Gene verhindern. Im Tierversuch ist dies beispielsweise bei Mäusen schon gelungen, die als Modell für die Huntington´sche Krankheit dienten. Aber auch in klinischen Studien wurde und wird die Antisense-Technik bereits erprobt, beispielsweise gegen die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Rheuma, Asthma, Morbus Crohn sowie eine Vielzahl von Krebserkrankungen.

(Vorlage für eine Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 5. Januar 2017)

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Schwachstrom schmilzt Fett weg

San Diego. Erstmals ist es Wissenschaftlern gelungen, durch die elektrische Stimulation des Vestibularnervs den Anteil des Körperfetts beim Menschen zu senken. Dabei hätten die Studienteilnehmer weder ihre Ernährung verändert, noch ihre körperlichen Aktivitäten, berichtete der Erstautor der Studie, Jason McKeown vom Center for Brain and Cognition der University of California San Diego auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience.

Zehn übergewichtige Freiwillige trugen dafür bis zu vier Mal pro Woche eine Stunde lang Kopfhörer-ähnliche Geräte, die so konstruiert waren, dass sie hinter den Ohren durch die Haut den Vestibularnerv reizten. Während sieben Personen jeweils für eine Stunde einen schwachen Wechselstrom von 0,5 Hertz und maximal 2 Milliampere erhielten, bekamen drei weitere lediglich eine Scheinstimulation. Mit dieser Methode der „Galvanisch-Vestibulären Stimulation“ (GVS) verloren die sieben tatsächlich behandelten Freiwilligen im Vergleich zur Kontrollgruppe durchschnittlich etwas mehr als acht Prozent Körperfett. Maximal waren es während der 15-wöchigen Studie sogar 16 Prozent, so McKeown.

Das sogenannte Labyrinth im Innenohr des Menschen hilft nicht nur das Gleichgewicht zu bewahren. Es ist womöglich auch an der Regulation des Körperfettes beteiligt (Zeichnung von Henry Gray aus Anatomy of the Human Body. Via Wikipedia. Public Domain)

Ausgangspunkt des ungewöhnlichen Experiments waren Beobachtungen, wonach Ratten und Mäuse unter dauerhaft erhöhter Schwerkraft ihren Körperfettanteil von etwa 20 auf 5 Prozent reduzieren. Dass die veränderte Körperzusammensetzung keine unspezifische Folge der erhöhten Schwerkraft ist, zeigen ähnliche Beobachtungen bei Mausmutanten, denen das otolitische Organ im Innenohr fehlt, welches Informationen zur Beschleunigung des Körpers an den Vestibularnerv sendet. Der wiederum läuft zum Hirnstamm und hat von dort aus eine Verbindung zum Hypothalamus, einer Hirnregion, die unter anderem die Fettspeicher des Körpers mitreguliert.

McKeown, der diese Studie als Gastwissenschaftler  im Labor von Vilayanur Ramachandran durchgeführt hat, schloss daraus, dass die Veränderung der Körperzusammensetzung durch einen Signalweg unter Beteiligung des Vestibularnervs und des Hypothalamus vermittelt wird.  Sein GVS-Gerät, dem er den Namen „Stimu Slim“ gegeben hat, sollte diese Hypothese testen.

In einer zweiten Studie mit sechs Übergewichtigen schalteten die Forscher ihren Stimulator jeweils eine Stunde vor dem Frühstück an. Noch während der Stimulation änderten sich daraufhin die Mengen der Hormone Insulin (es reguliert die Aufnahme von Zucker in die Zellen) und Leptin (signalisiert Hunger) derart, als ob die Probanden gerade eine Mahlzeit zu sich genommen hätten. Als die Forscher nach einer echten Stimulation und nach einer Scheinstimulation nach dem Hungergefühl fragten, blieb der Hunger unter der GVS gleich, bei einer Scheinbehandlung allerdings wurde er immer größer.

„Schon lange gibt es die Idee, dass der Hypothalamus eine Art Fixpunkt einstellt, der bestimmt, wie viel Fett der Körper speichern soll“, erklärt McKeown. Dieser Mechanismus sollte eigentlich vor Fettleibigkeit schützen, könne aber womöglich durch lange Zeiten im Übergewicht entgleisen. „An diesem Punkt wird es dann zunehmend schwieriger, durch eine Diät das Körperfett dauerhaft zu reduzieren, weil der Fixpunkt nun so eingestellt ist, dass zusätzliches Fett gespeichert wird“, sagt McKeown. Dass man durch die GVS das Körperfett beim Menschen reduzieren könne sei nun erstmals gezeigt worden, sagen die Forscher. „Angesichts der globalen Gesundheitskrise durch die Zunahme von Übergewicht könnte eine weitere Erkundung der Vestibularnerv-Stimulation einen möglichen Weg zur Therapie bieten“, lautete ihre Schlussfolgerung in San Diego.

Wie weitere Recherchen ergaben, ist McKeown mit seinem Kollegen Paul McGeoch schon einen Schritt weiter: Die beiden haben die in Irland ansässige Firma NeuroValens gegründet. Sie soll Stimu Slim ab dem kommenden Jahr produzieren und das Gerät an Übergewichigte wie auch Normalgewichtige verkaufen, die damit ihren Körper mühelos „entfetten“ wollen. Einem Pressebericht zufolge hätte die Markteinführung bereits in 2016 erfolgen sollen, auf der Webseite wurde sie nun für 2017 angekündigt.

Quelle:

McKeown J et al. Modulation of body mass composition using galvanic vestibular stimulation. Abstract 95.07, Society for Neuroscience 46th annual meeting, San Diego, 12. November 2016

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Neues Werkzeug für die Hirnforscher

San Diego. US-amerikanische Neurowissenschaftler haben aus dem Erbgut eines Fisches ein Gen isoliert, mit dem die Tiere elektromagnetische Felder erspüren können. Außerdem ist es den Forschern gelungen, das Gen in Rattenhirne einzupflanzen und damit epileptische Anfälle zu unterdrücken. Über ihre Entdeckung berichtete die Arbeitsgruppe um Galit Pelled von der Radiologischen Abteilung der Johns Hopkins Universität (Baltimore) auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience.

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Aus Indischen Glaswelsen – hier im Aquarium des Frankfurter Zoos – haben Hirnforscher ein Gen isoliert, das es den Tieren ermöglicht, auf elektromagnetische Felder zu reagieren (Foto: Martin Fisch via Wikipedia [CC BY-SA 2.0])

Zwar hat es in den vergangenen Jahren große Fortschritte darin gegeben, Nervenzellen in lebenden Organismen und ausgewählten Schaltkreisen des Gehirns nach Belieben an- und auszuschalten. „Diese Methoden erfordern jedoch den Einsatz von Glasfaserkabeln, Medikamenten, Radiowellen oder Ultraschall“, sagt Jineta Banerjee, die in San Diego eine der beiden Arbeiten aus Pelleds Gruppe präsentiert hat. Die Entdeckung von Genen, die auf nicht-invasive elektromagnetische Felder reagieren, sei noch ganz am Anfang, so Banerjee.

Fündig wurden die Wissenschaftler im Indischen Glaswels (Kryptopterus bicirrhis), von dem man weiß, dass er wie einige andere Wasserbewohner auch sich mithilfe von elektromagnetischen Feldern orientiert. Beim Glaswels ist daran offenbar das bislang unbekannte „electromagnetic perceptive gene“ (EPG) beteiligt. Dieses Gen haben die Forscher nun isoliert, an ein zusätzliches Reportergen gekoppelt, und anschließend im Labor in Nervenzellen eingebaut.

Zwar gelang dies zunächst nur mit exakt neun Nervenzellen. Als die Forscher jedoch für jeweils 10 Sekunden elektromagnetische Felder auf die Zellkultur abstrahlten, öffnete das EPG Ionenkanäle in der Zellmembran. Dank des Reportergens konnten die Forscher beobachten, wie sich unmittelbar darauf im Zellinneren die Konzentration von Kalziumionen um etwa 20 Prozent erhöhte – ein typisches Verhalten für aktivierte Nervenzellen.

„Wir erwarten, dass diese Entdeckung das Potenzial hat, die Neurowissenschaften zu transformieren“, schreiben die Forscher eher unbescheiden in die Schlussfolgerungen ihrer Arbeit.

Zumindest im Tiermodell haben sie allerdings auch gleich gezeigt, wie die neue Technik eingesetzt werden kann, um Krampfanfälle zu verhindern: Sie nutzen dafür Ratten, denen man Kainsäure ins Nervensystem gespritzt hatte, sodass die Tiere regelmäßig epileptische Anfälle entwickelten.

Einem Teil der Tiere injizierten die Forscher dann Viren, die das EPG in die Hirnregion des Hippocampus einschleusten; eine zweite Gruppe bekam zum Vergleich die gleichen Viren ohne EPG. Zwei Wochen danach zählten die Wissenschaftler, wie häufig die Ratten Krampfanfälle bekamen. Bei Tieren mit dem EPG sank die Zahl von ursprünglich 17 am Tag um beinahe 50 Prozent auf 9, in der Kontrollgruppe dagegen ging die Zahl der Anfälle nur um 16 Prozent zurück. Möglicherweise hätte bereits die aufkommende elektrische Aktivität zu Beginn eines Krampfanfalls das EPG aktiviert, und so den Ausbruch unterbunden, spekulieren die Wissenschaftler.

Als sie nochmals zwei Wochen später ihr Experiment wiederholten und diesmal das EPG durch ein elektromagnetisches Feld aktivierten, sank die Zahl der Krampfanfälle erneut – und zwar um etwa 80 Prozent auf durchschnittlich nur noch 3,6.

„Diese vorläufigen Daten legen nahe, dass die drahtlose Aktivierung von EPG durch elektromagnetische Felder oder möglicherweise die elektromagnetischen Veränderungen durch die Krampfanfälle selbst die Attacken unterdrücken können“, sagte der Medizinstudent Benjamin Theisen, der bei diesem Experiment federführend war, im Namen seiner Kollegen. Und auch diese Präsentation endete mit einer sehr optimistischen Einschätzung: „Weitere Untersuchungen könnten zu einer neuen, nicht-invasiven Alternative zu den gegenwärtigen klinischen Standards führen.“

Quellen:

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Beeinflussen Darmbakterien die Hirnleistung?

San Diego. Kleinkinder, die in ihrem Darm einen bestimmten Mix aus Bakterien tragen, sind Altersgenossen in ihren geistigen Fähigkeiten überlegen. Außerdem gibt es offenbar einen Zusammenhang zwischen der Darmflora und der Hirnentwicklung bis zum zweiten Lebensjahr, berichten Alex Carlson von der University of North Carolina in Chapel Hill und seine Kollegen auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Gesellschaft für Neurowissenschaften (SfN).

Unklar ist allerdings, ob die Bakterien die Hirnentwicklung direkt beeinflussen, oder ob sie lediglich eine Folge von Lebensumständen sind, die sich günstig auf die geistige Entwicklung auswirken. Auch Carlson lässt dies zunächst offen: „Unsere Forschung weist darauf hin, dass die Zusammensetzung der Mikroben im Darm die Entwicklung des menschlichen Gehirns beeinflussen könnte“, sagte er. Ziel der Arbeit sei es gewesen, den Zusammenhang zwischen der sich entwickelnden Darmflora und der kognitiven Entwicklung von Kleinkindern besser zu verstehen. Dies hielt den Neurobiologie-Studenten aber nicht davon ab zu spekulieren: „Letztlich könnte die gezielte Veränderung der Darm-Hirn-Achse neue Möglichkeiten für die Behandlung und Vermeidung von Hirnentwicklungsstörungen eröffnen.“

Durchgeführt wurde die Arbeit mit 89 Kleinkindern im Alter von einem Jahr, deren Darmbewohner mithilfe von DNA-Analysen aus Stuhlproben bestimmt wurden. Anhand der Häufigkeit bestimmter Bakterien in den Stuhlproben und der Verwandschaft dieser Bakterien untereinander teilten die Wissenschaftler die Kinder in drei Gruppen ein. Insbesondere die Gattungen Faecalibacterium, Bacteroides  und Clostridiales waren zwischen diesen drei Gruppen ungleich verteilt.

Anhand der „Mullen Skala für frühes Lernen“ vermaßen Carlson und dessen Kollegen dann die Wahrnehmungsfähigkeit, die Sprachentwicklung und die motorischen Fähigkeiten der Kinder im Alter von zwei Jahren. „Die Kinder in der Gruppe mit vielen Bakterien der Gattung Bacteroides hatten gegenüber den anderen beiden Gruppen bessere geistige Leistungen“, so Carlson.

Überraschend für die Wissenschaftler war auch, dass Kinder mit einer besonders vielfältigen Darmflora schlechter abschnitten als diejenigen, mit weniger unterschiedlichen Mikroben im Darm. „Eigentlich hatten wir vorhergesagt, dass die Kinder mit vielfältiger Darmflora bessere Leistungen bringen würden, denn andere Studien haben gezeigt, dass dies sich positiv auf die Gesundheit auswirkt – etwa auf die Entwicklung von Asthma und Diabetes. „Unsere Arbeit unterstreicht die Tatsache, dass ein optimales Mikrobiom bezüglich der Kognition und der Psyche anders aussehen könnte, als wenn man nach anderen körperlichen Merkmalen fragt.“, so Carlson.

Die Ergebnisse hätten „wichtige Implikationen“ für Interventionen die auf die Darmflora zielen, wie beispielsweise die Gabe von Probiotika. Bei Kleinkindern hätte man damit womöglich mehr Erfolg, weil dort die Darmflora leichter zu verändern wäre. Direkter ginge dies, wenn man die Moleküle identifieren könnte, welche die mikrobiellen Effkte auf das Gehirn vermitteln. Sein Labor arbeite gegenwärtig an diesem Projekt, so Carlson, denn „diese Moleküle könnten neue Therapeutika für komplexe psychiatrische Erkrankungen darstellen, oder Ziele sein für die Medikamente der Zukunft.“

Bei all dem geht Carlson als Sprecher seines Teams wie selbstverständlich davon aus, dass es tatsächlich die Präsenz bestimmter Bakterienarten ist, die sich günstig auf die frühkindliche Hirnentwicklung auswirkt. Eine alternative Erklärung wäre, dass Eltern, die sich intensiver mit ihren Kindern beschäftigen, diese auch anders ernähren, wodurch sich natürlich auch die Darmflora anders entwickelt. Ihre bessere geistige Entwicklung würden diese Kinder dann allerdings nicht der Babykost verdanken oder den von Geburt an vorhandenen Bakterien, sondern ganz klassisch der elterlichen Zuneigung.

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Stammzellen gegen ALS?

San Diego. Tschechische und italienische Wissenschaftler haben in unkontrollierten Studien der Phase I insgesamt 44 Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) Stammzellen ins Rückenmark implantiert, um den Verlauf der Krankheit zu bremsen. Etwa 25 weitere Patienten sind zudem außerhalb von Studien, aber mit Genehmigung der Behörden in der Tschechischen Republik behandelt worden, sagte Prof. Dr. Eva Sykova vom Institut für Experimentelle Medizin ASCR und der Karls-Universität in Prag auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience.

Fortschreitende Lähmungen machen die Verständigung für ALS-Patienten immer schwieriger (Foto; Fezcat / Wikipedia , CC BY-SA 4.0)

„Die Zelltherapie könnte neue Möglichkeiten eröffnen die ALS zu heilen, indem sie neurotrophische Unterstützung für die Motorneuronen  und dysfunktionalen Gliazellen bereitstellt und das Immunsystem beeinflusst“, glaubt Sykova. Mit ihrem Team hatte sie zunächst menschliche mesenchymale Stammzellen (MSC) ins Gehirn von Ratten gespritzt. Die Tiere waren gentechnisch so verändert worden, dass sie ALS-ähnliche Krankheitszeichen entwickelt hatten und waren nach dem Eingriff eindeutig beweglicher und besser in der Lage zu greifen, als nicht behandelte Artgenossen.

Ziel der anschließenden offenen, nicht randomisierten Studie der Phase I/IIa, die von der Firma Bioinova finanziert wurde, war es „die Sicherheit und Wirksamkeit autologer, multipotenter mesenchymaler Stammzellen aus dem Knochenmark bei der Behandlung der ALS zu testen“. Jeweils etwa 15 Millionen dieser MSC wurden bei einer Lumbalpunktion im Bereich der Lendenwirbel in das Nervenwasser gespritzt, und anschließend die Kraft, Beweglichkeit und Gehfähigkeit der Patienten über 18 Monate hinweg verfolgt. Vier verschiedene Bewertungsskalen kamen dabei zur Anwendung, darunter die ALS Functional Rating Scale. Hier fanden sich sowohl nach drei, als auch nach sechs Monaten statistisch signifikante Verbesserungen im Vergleich zum natürlichen Verlauf der Krankheit.

Im gleichen Zeitraum stabilisierte sich auch die forcierte Vitalkapazität, ein Maß für die Funktion der Lunge. Ernsthafte Nebenwirkungen des Eingriffs wurden nicht beobachtet. Die Patienten litten lediglich vorübergehend an Kopfschmerzen, was infolge einer Lumbalpunktion als normal gilt. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die intrathekale Injektion von mesenchymalen Knochenmarksstammzellen bei ALS-Patienten sicher ist, und dass sie – zumindest vorübergehend – das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen kann“, sagte Sykova.

Mit dem gleichen Ergebnis sind durch Sykovas Arbeitsgruppe etwa 25 weitere Patienten außerhalb der Studie behandelt worden, berichtete sie in San Diego. Auch ausländische Patienten interessierten sich für die Prozedur, beispielsweise aus den Niederlanden. Hier sei man in Verhandlungen mit der Krankenkasse, damit diese die Kosten für den Eingriff übernimmt.

Problematisch ist allerdings, dass die injizierten Zellen nicht lange überleben und auch nicht vor Ort bleiben. Man habe deshalb angefangen, statt einer Injektion drei zu verabreichen, sagte Sykova.

Zeitgleich präsentierte auch eine 30-köpfige italienische Arbeitsgruppe die Ergebnisse einer Phase I-Studie mit 18 ALS-Patienten, denen man embryonale Stammzellen injiziert hatte, die aus fötalen Fehlgeburten stammten. Für ihre Kollegen berichtete Dr. Daniele Ferrari von der Abteilung Biotechnologie und Biowissenschaften der Universität Bicocca, Mailand über den Ausgang des Experiments, das man in Zusammenarbeit mit  dem Neurochirurgen Dr. Nicholas Boulis von der Emory-University im amerikanischen Atlanta durchgeführt hatte: Jeder Patient hatte drei Injektionen mit jeweils etwa 50 Millionen neuronalen Stammzellen erhalten – bei einem Drittel der Patienten im Bereich von Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule, und bei zwei Dritteln an der Halswirbelsäule.

Danach erhielten alle Studienteilnehmer sechs Monate lang Medikamente zur Unterdrückung der Immunantwort gegen die fremden Zellen. Auch bei diesem Versuch gab es keine ernsthaften Nebenwirkungen, stellen die Wissenschaftler fest. Lediglich an der Einstichstelle verspürten die Patienten bis zu vier Tage lang leichte Schmerzen.

Allerdings vermochte die Prozedur den Krankheitsverlauf kaum zu beeinflussen. „Wir haben eine geringfügige Verlangsamung des Verfalls festgestellt im Zeitraum von zwei bis vier Monaten nach dem Eingriff“, sagte Ferrari. Elf der 18 Patienten hatten in diesem Zeitraum etwas mehr Kraft in Armen und Beinen, als man erwarten durfte. Allerdings sind insgesamt neun der Patienten seit dem Eingriff an ALS gestorben, sodass es wohl keine positiven Überraschungen mehr aus dieser Studie geben wird. Dennoch gab sich Ferrari optimistisch: „Wir werden eine Studie der Phase II beginnen und diesmal größere Mengen an Zellen transplantieren“, kündigte sie in San Diego an.

In Deutschland wurden Stammzelltherapien gegen neurologische Erkrankungen bisher noch kaum erprobt. Für negative Schlagzeilen hatte dabei vor allem das Düsseldorfer XCell-Center gesorgt, wo man Zelltransplantationen gegen eine Vielzahl von Erkrankungen auf Selbstzahlerbasis angeboten hatte. Mehrfach hatten Wissenschaftler und Fachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für Neurologie die Erfolgschancen dieser Angebote bezweifelt und die mangelnde wissenschaftliche Grundlage kritisiert. Nach dem Tod eines 18 Monate alten Jungen im Rahmen einer dieser „Therapien“ wurde das XCell-Center schließlich im Jahr 2011 geschlossen.

Prof. Dr. Albert Ludolph, Leiter der Neurologie an der Universitätsklinik Ulm steht deshalb verfrühten Versuchen zur Stammzelltherapie bei ALS kritisch gegenüber. Das seien oftmals „Geschäfte in der Grauzone“, sagte er gegenüber der Webseite Medscape. „Betroffenen werden viel zu häufig falsche Hoffnungen gemacht.“

Quellen:

  • Abstract 45.01 Syka M et al. Stem cells for treatment of Amyotrophic lateral sclerosis. Preclinical and clinical study. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.
  • Abstract 45.04 Jendelova P et al. The effect of different applications of mesenchymal stem cells in the treatment of amyotrophic lateral sclerosis. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.
  • Abstract 45.13 Mazzini L et al. Data from pre-clinical and completed phase I clinical studies with intraspinal injection of human neural stem cells in amyotrophic lateral sclerosis. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.
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Politik vernachlässigt psychisch Kranke

San Diego. Mit einem leidenschaftlichen Playdoyer für mehr Unterstützung und Forschung zugunsten psychisch kranker Menschen wurde gestern die 46. Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience (SfN) eröffnet. Vor mehreren Tausend Zuhörern appelierte Shekhar Saxena, Leiter der Abteilung Geistige Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), an die Neurowissenschaftler, ihren Beitrag zu leisten und die Interessen der Patienten bei der Forschung immer im Blick zu behalten.

Das Kongresszentrum in San Diego ist alle drei Jahre Veranstaltungsort für die weltweit größte Versammlung von Hirnforschern. (Foto Bernard Gagnon / Wikipedia CC BY-SA 3.0)

Im Vergleich zu anderen Krankheiten würden psychische Erkrankungen weltweit massiv vernachlässigt, kritisierte Saxena. So begeht alle 40 Sekunden ein Mensch Selbstmord, jährlich sind es weltweit 800000. „Das sind mehr als durch Kriege, Malaria oder Brustkrebs“, verdeutlichte Saxena. Suizid sei inzwischen die häufigste Todesursache junger Menschen. Generell verkürzen demnach schwere psychiatrische Erkrankungen die Lebenserwartung um 15 bis 20 Jahre. „Solch ein Leiden zuzulassen ist ein Skandal für eine moderne Gesellschaft“, sagte der WHO-Funktionär.

Global gesehen arbeiten nur ein Prozent aller Angestellten im Gesundheitswesen mit und für psychisch Kranke. Hier gebe es eine gewaltige Lücke zwischen der Belastung einerseits und dem Budget andererseits. Selbst die reichen Länder verwenden nur etwa fünf Prozent ihres Gesundheitsetats auf psychische Leiden, und in den armen Ländern sinkt dieser Anteil auf bis zu 0,5 Prozent, berichtete Saxena.

„Viele Menschen bemessen die Kosten lediglich danach, wie viele Dollar verloren gehen“, sagte Saxena. „Aber auch nach diesem Maßstab ist es ein gewaltiges Problem.“ Weltweit wurden die Kosten für die Behandlung und die verminderte Produktivität der Betroffenen im Jahr 2010 auf 2,5 Billionen Dollar geschätzt. Den Hochrechnungen der WHO zufolge wird sich dieser Betrag bis zum Jahr 2030 auf 6 Billionen Dollar mehr als verdoppeln.

Volkswirtschaftlich betrachtet seien Investitionen in die psychische Gesundheit ein gutes Geschäft. Für Depressionen liegen zum Beispiel Berechnungen vor, die einen Ertrag von 5,3 Dollar je investiertem Dollar annehmen.

Psychisch Kranke werden indes nicht nur gegenüber anderen Patienten benachteiligt, nicht selten werden auch noch ihre Menschenrechte missachtet. Der Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe und auch die Verweigerung alltäglicher Annehmlichkeiten seien nicht hinnehmbar, so Saxena. „Und kann man ein Land fortschrittlich nennen, in dem eine Million psychisch kranker Menschen im Gefängnis sitzt?“, fragte er in offensichtlicher Anspielung auf die Zustände in den USA. „Denken Sie mal darüber nach!“

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„Nicht zögern bei MS“

Nach der Diagnose sollten Patienten mit Multipler Sklerose (MS) möglichst schnell behandelt werden. Das fordert einer der renommiertesten Experten auf diesem Gebiet, Professor Ludwig Kappos, Chefarzt Neurologie am Universitätsspital in Basel. Er stützt sich dabei auf eine Studie, bei der Patienten mit unterschiedlichem Behandlungsbeginn über elf Jahre hinweg verfolgt und auf ihren Gesundheitszustand hin überprüft wurden.

„Unsere Studie bestärkt uns darin, Betroffenen bereits beim ersten Auftreten von hochverdächtigen MS-Symptomen dringend eine vorbeugende Therapie zu empfehlen. Ein früher Behandlungsbeginn hat gegenüber einer verzögerten Therapieeinleitung nachweisbare Vorteile, weil damit der Ausbruch von MS verzögert oder sogar verhindert werden kann“,

sagte Kappos in einer Pressemitteilung. Im Hintergrund der Studie stehen auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Neurologen angesichts sehr unterschiedlicher Verlaufsformen der Krankheit. Bei manchen Patienten schreiten die Behinderungen wie Schwäche, Koordinations- und Sprachstörungen nur langsam fort. Meist entwickelt sich die Krankheit auch in Schüben. Beschwerden wie Taubheit, eingeschränktes Sehvermögen, Kraftminderung oder Gleichgewichtsstörungen tauchen plötzlich auf und vergehen wieder, manchmal sogar ohne Behandlung. Dies hatte in der Vergangenheit einige Experten dazu bewogen, bei der Gabe von Medikamenten Zurückhaltung zu fordern. Immerhin können Beta-Interferone, die als Standard-Arzneien gegen die MS gelten, auch Nebenwirkungen wie Schwäche und Müdigkeit hervorrufen, die die Lebensqualität der Patienten beeinträchtigen.

Die Einschätzung des Behandlungserfolgs ist auch deshalb schwierig, weil nach den Krankheitsschüben im Gehirn offenbar ein Reparaturprozess statt findet, der die Schäden zumindest teilweise kompensiert. Angesichts eines in der Regel jahrzehntelangen Krankheitsverlaufs konnten die bisherigen Studien mit ihren wenigen Jahren Laufzeit Kosten und Nutzen einer möglichst frühen Behandlung daher nicht zuverlässig beurteilen, sagen die Forscher um Kappos. Hier schafft die neue Untersuchung nun Klarheit, deren Ergebnisse ich wie folgt zusammenfassen und übersetzen möchte:

Teilgenommen haben 468 Personen mit ersten verdächtigen MS-Symptomen, die aber noch nicht ausreichten, um eine sichere Diagnose zu stellen. Immerhin konnten andere Ursachen ausgeschlossen werden und Magnetresonanzaufnahmen des Gehirns hatten mindestens zwei asymptomatische „Herde“ nachgewiesen – also Regionen mit MS-typischen Veränderungen.

Die Teilnehmer erhielten dann nach dem Zufallsprinzip innerhalb von maximal 60 Tagen ab Beginn der Symptome entweder das Medikament Interferon β-1b oder ein Scheinmedikament. Nach spätestens zwei Jahren oder früher, wenn bei den Betreffenden nach einem zweiten Schub MS diagnostiziert wurde, konnte die Placebo-Gruppe ebenfalls auf die Einnahme von Interferon β-1b oder eines vergleichbaren Medikaments umsteigen.

Elf Jahre nach dem Beginn der Studie konnten die Forscher die Daten von fast 300 Patienten auswerten. Es  zeigte sich, dass jene mit früher Therapie eine um 33 Prozent niedrigere Wahrscheinlichkeit hatten, definitiv an MS zu erkranken als jene, die erst später behandelt wurden. Außerdem verstrich bei der frühen Gruppe deutlich mehr Zeit bis zum ersten Rückfall der Krankheit, nämlich 1888 Tage im Vergleich zu 931 Tagen bei der späteren Gruppe. Schließlich war auch die Häufigkeit von Krankheitsschüben in der frühen Gruppe um 19 Prozent geringer gewesen. Diese Unterschiede spiegelten sich allerdings nicht beim Vergleich der Behinderung. „Insgesamt hatten beide Gruppen nach elf Jahren nur wenig dauerhafte Beeinträchtigungen“, teilen die Forscher mit. Die durchschnittliche Verschlechterung auf der zehnstufigen Behinderungsskala EDSS hatte jeweils nur 0,5 Punkte betragen, und nur rund acht Prozent der Teilnehmenden waren nach elf Jahren vorzeitig berentet.

Originalartikel:

Kappos L, Edan G, Freedman MS, et al. The 11-year long-term follow-up study from the randomized BENEFIT CIS trial. Neurology. 2016;87:1-10.  (noch kein Link verfügbar)

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Computer-Training bei Retinitis pigmentosa

Mit den unterschiedlichsten Ansätzen versuchen Forscher, die Ursache für die Augenkrankheit Retinitis pigmentosa (RP) aufzuhalten: den fortschreitenden Zerfall der Fotorezeptor-Zellen in der Netzhaut auf der Rückseite des Auges. Erste Anzeichen sind meist eine Verkleinerung des Gesichtsfeldes und eine Verschlechterung der Nachtsicht

Zwar gibt es einige Erfolgsmeldungen aus frühen Versuchen, das Leiden mit einer Gentherapie zu lindern. Auch die Transplantation von Stammzellen ins Auge wird erprobt. Und man hat man herausgefunden, dass die Einnahme von Vitamin A das Fortschreiten der RP womöglich verlangsamen kann. Einige einige Patienten haben durch sogenannte Retina-Implantate sogar einen Teil ihres Sehvermögens zurückgewonnen.

Eine echte Heilung für das Gros der Patienten, deren Zahl alleine in Deutschland auf 30000 bis 40000 geschätzt wird, ist aber noch nicht in Sicht. Umso mehr freue ich mich über eine gute Nachricht, die ich von der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) erhalten habe, der wissenschaftlichen Vereinigung deutscher Augenärzte. Ich zitiere in Auszügen:

Tübinger Augenärzte haben … ein computerbasiertes Training entwickelt, das die Wahrnehmung und das Orientierungsvermögen der Betroffenen innerhalb von sechs Wochen deutlich verbessert. Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) sieht in der Software eine Chance, die Sicherheit und die Lebensqualität von Menschen mit Retinitis pigmentosa zu steigern und empfiehlt, das Training in die Behandlung dieser Patienten mit einzubinden.

„Die Patienten erkennen Hindernisse zu spät, sie stürzen häufiger, und das Risiko, als Fußgänger im Straßenverkehr zu Schaden zu kommen, ist erhöht“, sagt Professor Susanne Trauzettel-Klosinski, die an der Universität Tübingen die Forschungseinheit für visuelle Rehabilitation leitet. Darunter leidet die Lebensqualität: „Viele Menschen mit Tunnelblick trauen sich kaum mehr ihre Wohnung zu verlassen und am öffentlichen Leben teilzunehmen“, sagt sie.

Dagegen hilft offenbar ein Trainingsprogramm, bei dem die Patienten vor einem Bildschirm sitzen, auf dem zufallsgesteuert Zahlen erscheinen. Die Aufgabe besteht darin, die Zahlen mit der Maus wegzuklicken. Dabei erscheinen einige Zahlen auch außerhalb des Gesichtsfeldes der Patienten. Durch gezielte Bewegungen der Augäpfel lernen sie aber, auch diese Zahlen zu erfassen. Ein ähnliches Training nutzen bereits Schlaganfallpatienten, bei denen der Hirnschaden zu einem Gesichtsfeldausfall geführt hat.

In einer ersten klinischen Studie testeten 25 Patienten mit Retinitis pigmentosa das PC-Programm zu Hause am Laptop. Sie trainierten an fünf Tagen pro Woche für jeweils 30 Minuten. Die Ergebnisse wurden nun im Fachblatt PLOS One veröffentlicht: Nach sechs Wochen Training hatten die Patienten ihre Reaktionszeiten im PC-Training um 37 Prozent gesenkt. Die Patienten konnten danach einen Gehtest mit Hindernissen schneller und mit weniger Fehlern absolvieren als eine Vergleichsgruppe, die nur an einem Lesetraining teilgenommen hatte. Während des Gehtests trugen alle Teilnehmer ein Gerät, das die Augenbewegungen registrierte.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Probanden vermehrt die Umgebung ihres eingeschränkten Gesichtsfeldes erkunden, erklärt Trauzettel-Klosinski: „Durch das Training haben sie gelernt, die Bewegung ihrer Augäpfel bewusst zu steuern – so nehmen sie Hindernisse besser wahr als untrainierte Patienten.“ Ein solches Training kann die Mobilität auch nach einem bereits erfolgten Orientierungs- und Mobilitätstraining mit dem Langstock verbessern. Die Tübinger Ophthalmologen arbeiten die Trainingssoftware nun zu einem benutzerfreundlichen Programm aus. Die Kosten dafür schätzt Trauzettel-Klosinski auf etwa 300 Euro und hofft, dass die Krankenkassen sich daran beteiligen.

Übertriebene Hoffnungen möchten die Tübinger Augenärzte trotzdem nicht aufkommen lassen. Das Training kann die RP weder aufhalten noch heilen. Aber es hilft offenbar, trotz des fortschreitenden Sehverlustes im Alltag besser zurecht zu kommen. „Die Übungen helfen den Betroffenen ihr verbliebenes Blickfeld effektiver zu nutzen und sich so im Alltag besser zurechtzufinden“, erklärt Professor Frank G. Holz vom Vorstand der Stiftung Auge, die die Tübinger Studie unterstützt hat. Für die Patienten böte das Training spürbare Vorteile: sie können aktiv etwas gegen die Folgen der Erkrankung unternehmen und gewinnen an Lebensqualität.

Originalliteratur:

Ivanov IV, Mackeben M, Vollmer A, Martus P, Nguyen NX, Trauzettel-Klosinski S. Eye Movement Training and Suggested Gaze Strategies in Tunnel Vision – A Randomized and Controlled Pilot Study. PLoS One. 2016 Jun 28;11(6):e0157825.

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Gute Laune aus dem Handy

Man mag den Kopf schütteln über den aktuellen Hype um das Handy-Spiel Pokémon Go, aber lassen Sie es uns positiv sehen: Beim Fangen der virtuellen Viecher kommen die Spieler wenigstens in Freie und lernen ihre Umgebung kennen. Das scheint mir allemal besser, als Extreme-Couching, Koma-Saufen und andere angesagte Freizeitaktivitäten.

Nun haben Psychologen der Universität Basel zusammen mit Kollegen aus Korea, den USA und Deutschland eine weitere nützliche Anwendung für Smartphones entdeckt: In einer Studie mit 27 gesunden jungen Männern übertrugen sie Übungen aus der Psychotherapie auf die Geräte, und verbesserten damit deutlich die Stimmung der Teilnehmer über die zweiwöchige Übungsphase hinweg.

In einer Pressemitteilung berichten die Forscher um PD Dr. Marion Tegethoff:

Die Probanden hatten die Wahl zwischen verschiedenen bewährten und neueren psychotherapeutischen Übungsbausteinen, sogenannten Mikro-Interventionen. So riefen sich manche der Teilnehmer während der Übungsphase emotionale Erlebnisse in Erinnerung, während andere Probanden kurze Sätze oder Zahlenfolgen kontemplativ wiederholten oder mit ihrer Gesichtsmimik spielten. Ihre Stimmungslage erfassten die Probanden auf ihrem Smartphone, indem sie jeweils vor und nach der Übung kurze Fragen durch Ankreuzen auf einer sechsstufigen Skala beantworteten. Wem es gelang, seine Stimmung durch die kurzen Übungseinheiten unmittelbar zu verbessern, profitierte auch längerfristig: Die Stimmung stieg insgesamt über die zweiwöchige Studienphase an.

Aus ihrer Mini-Studie ziehen die Forscher die Bilanz, dass smartphone-gestützte Mikro-Interventionen psychotherapeutische Angebote unter Umständen sinnvoll ergänzen könnten. „Die Befunde belegen die Nutzbarkeit smartphonebasierter Mikro-Interventionen zur Verbesserung der Stimmung in konkreten Alltagssituationen“, so Tegethoff. Um die Befunde zu erhärten, seien aber weitere Untersuchungen notwendig.

In ihrer Arbeit sieht die Psychologin auch einen Beitrag zur personalisierten Medizin, weil damit jederzeit und an jedem Ort ein Hilfsangebot verfügbar werde. Wer mag, kann sich auf der Webseite der Fachzeitschrift „Frontiers in Psychology“ selbst einen Eindruck von den Übungen verschaffen. Dort können fünf (englischsprachige) Videos betrachtet und somit auch für eigene Entspannungsübungen genutzt werden ( -> Video 1,  Video 2, Video 3, Video 4, Video 5).

Die Videos stehen allen Interessierten frei zur Verfügung, sodass sie auch für zukünftige Studien genutzt werden können, betonen die Forscher. Gleichzeitig warnen sie aber davor, dass diese Videos bei Menschen mit Depressionen oder einer anderen psychischen Erkrankung keine Behandlung durch eine Fachperson ersetzen können!

Quelle: Gunther Meinlschmidt, Jong-Hwan Lee, Esther Stalujanis, Angelo Belardi, Minkyung Oh, Eun Kyung Jung, Hyun-Chul Kim, Janine Alfano, Seung-Schik Yoo und Marion Tegethoff: Smartphone-based psychotherapeutic micro-interventions to improve mood in a real-world setting. Frontiers in Psychology (2016)

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Alte sind weniger einsam

Hoffnung für unsere Zukunft macht das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin: Glaubt man den Ergebnissen einer Befragung von mehr als 1.600 älteren und 600 jüngeren Menschen, so sind über 75-jährige heute weniger einsam und oft auch geistig leistungsfähiger als noch vor 20 Jahren.

Alte Menschen sind heute weniger einsam als noch vor 20 Jahren, so das Ergebnis einer Max-Planck-Studie (Foto: Michael Simm)

Rentner in Gerona, 1983. Alte Menschen sind heute weniger einsam und geistig leistungsfähiger als noch vor 20 Jahren, so das Ergebnis einer Max-Planck-Studie (Foto: Michael Simm)

Zu entnehmen ist dies einer Pressemitteilung des Instituts, im Original wurden die Ergebnisse publiziert in einem Sonderheft der Fachzeitschrift Gerontoloy. Weil die Max-Planck-Gesellschaft für Qualität steht und die Pressemitteilung gut geschrieben ist, präsentieren wir sie hier im Wesentlichen unverändert und nur leicht gekürzt:

Wie altern wir heute und wie gelingt es vielen Menschen, auch im Alter fit und gesund zu bleiben? Diese Fragen erforscht seit 2009 die Berliner Altersstudie II (BASE-II). Beteiligt  an dem Projekt sind Psychologen, Mediziner, Ernährungs- und Sozialwissenschaftler sowie Genetiker…

Heutige 75-Jährige fühlen sich im Durchschnitt weniger einsam und schätzen ihr Leben weniger fremdbestimmt ein als 75-Jährige vor 20 Jahren. Wer sozial aktiv ist, ist zufriedener mit seinem Leben und geistig leistungsfähiger. Dabei spielt auch die Wohnsituation eine Rolle: Analysen zeigen, dass die soziale Unterstützung in der Nachbarschaft, aber auch der Zugang zu Bussen und Bahnen für das Wohlbefinden und die Gesundheit wichtig sind. „Ein Grund dafür könnte sein, dass ältere Menschen hierdurch noch lange Zeit eigenständig etwas unternehmen, Bekannte besuchen oder auch selbst zum Arzt gehen können“, sagt Gert G. Wagner, Ko-Autor und Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.

Von Bedeutung ist zudem, wie man seine eigene Zukunft sieht. So können sich Menschen, die erwarten, dass sie noch viele Jahre offen für Neues sein werden, neue Informationen besser einprägen als Menschen ohne diese Erwartung. „Den positiven Zusammenhang zwischen den Erwartungen an seine eigene Zukunft und der Merkfähigkeit finden wir sehr spannend“, sagt Ulman Lindenberger, Direktor des Forschungsbereichs „Entwicklungspsychologie“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) und Leiter des psychologischen Teils von BASE-II. Es seien verschiedene Ursachen für diesen Zusammenhang denkbar, denen man in Folgeuntersuchungen nachgehen werde…

Darüber hinaus bestätigen Genomdaten, dass Gesundheitsrisiken und Erkrankungen mit genetischen Unterschieden zusammenhängen. Beispiele sind eine verringerte Knochendichte sowie das mit dem Body-Mass-Index (BMI) erfasste Übergewicht. Beide Merkmale gefährden die Gesundheit im Alter; die geringe Knochendichte erhöht zum Beispiel das Risiko für Knochenbrüche. „Für Menschen mit entsprechender Veranlagung könnte dies bedeuten, noch frühzeitiger aktiv zu werden. Allerdings stehen unsere Erkenntnisse bei der Interpretation derartiger Genombefunde im Hinblick auf die Anwendung in der Krankheitsvorbeugung noch ganz am Anfang“, sagt Lars Bertram, Professor für Genomanalytik an der Universität zu Lübeck, der das molekulargenetische Teilprojekt von BASE-II leitet.

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse der Studie, dass der Anstieg der Lebenserwartung mit einem Zugewinn an gesunden Jahren einhergeht. Ein Datenvergleich von BASE-II und der Vorgängerstudie BASE belegt: Die geistige Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden im Alter bleiben länger erhalten. Heutige 75-Jährige sind geistig fitter und glücklicher als 75-Jährige vor 20 Jahren. „Wir gehen davon aus, dass sich die Zeit, in der ältere Menschen von gesundheitlichen Einschränkungen oder geistigen Einbußen betroffen sind, durch die verlängerte Lebenserwartung nicht einfach in die Länge zieht, sondern sich zum Ende des Lebens hin verdichtet“, sagt Denis Gerstorf, Professor für Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin und Sprecher der BASE-II-Studie…

 

164-glasses-2@2xFachliteratur:

  • Düzel, S., Voelkle, M. C., Düzel, E., Gerstorf, D., Drewelies, J., Steinhagen-Thiessen, E., Demuth, I., & Lindenberger, U. (2016). The subjective health horizon questionnaire (SHH-Q): Assessing future time perspectives for facets of an active lifestyle. Gerontology62, 345–353. doi:10.1159/000441493, Link:  http://www.karger.com/Article/FullText/441493
  • Eckstein, N., Buchmann, N., Demuth, I., Steinhagen-Thiessen, E., Nikolov, J., Spira, D., Eckardt, R., & Norman, K. (2016). Association between metabolic syndrome and bone mineral density – Data from the Berlin Aging Study II (BASE-II). Gerontology62, 337–344. doi:10.1159/000434678, Link:  http://www.karger.com/Article/FullText/434678
  • Eibich, P., Krekel, C., Demuth, I., & Wagner, G. G. (2016). Associations between neighborhood characteristics, well-being and health vary over the life course. Gerontology62, 362–370. doi:10.1159/000438700, Link: http://www.karger.com/Article/FullText/438700
  • Gerstorf, D., Bertram, L., Lindenberger, U., Pawelec, G., Demuth, I., Steinhagen-Thiessen, E., & Wagner, G. G. (2016). Editorial. Gerontology62, 311–315. doi:10.1159/000441495. Link: http://www.karger.com/Article/Abstract/441495
  • Hülür, G., Drewelies, J., Eibich, P., Düzel, S., Demuth, I., Ghisletta, P., Steinhagen-Thiessen, E., Wagner, G. G., Lindenberger, U., & Gerstorf, D. (2016). Cohort differences in psychosocial function over 20 years: Current older adults feel less lonely and less dependent on external circumstances. Gerontology62, 354–361. doi:10.1159/000438991, Link: http://www.karger.com/Article/Abstract/438991
  • Lill, C. M., Liu, T., Norman, K., Meyer, A., Steinhagen-Thiessen, E., Demuth, I., & Bertram, L. (2016). Genetic burden analyses of phenotypes relevant to aging in the Berlin Aging Study II (BASE-II). Gerontology62, 316–322. doi:10.1159/000438900, Link: http://www.karger.com/Article/Abstract/438900

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