35 Jahre nach ihrer Gründung hat die US-amerikanische Society for Neuroscience die Grenzen des Wachstums noch immer nicht erreicht. Im Gegenteil durfte das jüngste Jahrestreffen in der US-Hauptstadt Washington mit 34800 Teilnehmern und rund 17000 Forschungsarbeiten den Titel „größte Wissenschaftskonferenz aller Zeiten“ beanspruchen, so die scheidende Präsidentin des Verbandes, Carol Barnes von der University of Arizona in Tucson. Von praxisnahen Präsentationen zu experimentellen Therapien neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen über die Feinheiten der Sinnesphysiologie bei Fledermäusen, Hummern und anderem Getier reichte das Spektrum der Präsentationen bis hin zu den neuronalen Korrelaten höchst menschlicher Eigenschaften wie Empathie und Altruismus.
Quasi zur Einstimmung waren 14000 Neurowissenschaftler zu einem Vortrag des Dalai Lama gekommen, der seinen Zuhörern neben zahlreichen Komplimenten für deren Arbeit auch die Ermahnung mit auf den Weg gab, ihre Forschung in den Dienst der Menschheit zu stellen. Falsch sei die Ansicht, daß die Gesellschaft Wissenschaft und Technik einfach nur fördern solle und die Wahl, was man mit den Ergebnissen macht, dann dem Einzelnen überlassen, erklärte der Friedensnobelpreisträger und spirituellen Führer des tibetanischen Volkes, der für seine Rede mit anhaltendem Applaus bedacht wurde.
Positive Daten zu Amyloid-lösendem Wirkstoff bei Alzheimer
Obwohl der Schwerpunkt des Meetings noch immer auf der Grundlagenforschung liegt, gab es auch allerlei Praxisrelevantes zu berichten. Ein Highlight: Der Wirkstoff MPC-7869 (Flurizan) der Firma Myriad kann womöglich in einem frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit bei einem beträchtlichen Teil der Patienten den Verfall der geistigen Leistungen verlangsamen. Außerdem können diese Patienten viele Alltagsaktivitäten (ADL) länger verrichten. Im Gegensatz zu den bisher verfügbaren spezifischen Arzneien wirkt Flurizan nicht auf den Botenstoffwechsel des Gehirns, sondern es verringert die Ablagerungen bestimmter Eiweißbruchstücke (Aß) im Gehirn, die von den meisten Wissenschaftlern als Hauptursache des geistigen Verfalls angesehen werden.
207 Patienten hatten in kanadischen und britischen Kliniken entweder ein Scheinmedikament (Plazebo) oder Flurizan zwei Mal täglich in Konzentrationen von 400 Milligramm oder 800 Milligramm zusätzlich zu ihren normalen Medikamenten erhalten. Als effektiv erwies sich in der auf 12 Monate angelegten Untersuchung die höhere Dosierung des Wirkstoffes bei Patienten im frühen Stadium der Krankheit (MMSE größer oder gleich 20), nicht jedoch bei denjenigen, wo das Leiden schon weiter fortgeschritten war.
Die positive Bewertung durch Studienleiterin Sandra E. Black, Neurologieprofessorin an der Universität Toronto, stützt sich zwar nur auf jene 60 Prozent (n=29) der Patienten mit leichter Alzheimer-Krankheit und hoher Flurizan-Dosierung, die auch hohe Plasma-Konzentrationen des Wirkstoffes erreichten. Hier aber vermochte die Substanz den Verfall bei der Bewältigung von Alltagsaktivitäten um 62 Prozent gegenüber Plazebo zu verringern und um 36 Prozent in einem Gedächtnistest, der spezielle für diese Krankheiteit entwickelt wurde, dem sogenannten ADAS-cog. In der Nachbeobachtung hätten sich diese Unterschiede weiter vergrößert, berichtete Black in Washington, und nach 18 Monaten seien die Gedächtnisleistungen sogar gegenüber den 1-Jahres-Werten geringfügig angestiegen.
Für die Firma Myriad sind die Resultate offensichtlich ausreichend, um das Risiko einer groß angelegten Phase III-Studie einzugehen. Wie auf der Website des Unternehmens verlautet, sucht man in den USA 1600 Probanden ab 55 Jahren, bei denen eine mögliche leichte Alzheimer-Krankheit (MMSE 20 – 26) diagnostiziert wurde. Sie sollen ab Februar 2006 an der multizentrischen, doppel-blinden und Plazebo-kontrollierten Studie NCT00105547 teilnehmen, deren Hauptziel es erneut ist Veränderungen der geistigen Leistungen und bei den Aktivitäten des täglichen Lebens zu erfassen. Außerdem sollen in naher Zukunft auch deutsche Patienten die Gelegenheit bekommen, an der weltweiten Studie “Act Early AD” mit Flurizan teilzunehmen. (ACHTUNG: Nachdem sich die ursprünglichen, positiven Daten für Flurizan in weiteren Studien nicht bestätigt haben, wurde die Entwicklung im Juli 2008 eingestellt. Stand Oktober 2009 gab es keinerlei Suchergebnisse mehr zu Flurizan auf der Webseite der Firma Myriad)
Tango gegen Trägheit
Dass regelmäßige, schweißtreibende Übungen nicht nur die körperliche Fitness verbessern, sondern auch die Denkfähigkeit, ist schon lange bekannt. Die Methode allerdings, mit der Patricia McKinley, Assistenzprofessorin an der McGill Universität in Montreal, die Trägheit ihrer Probanden überwunden hat, läßt aufhorchen:
„Weil ich selbst eine begeisterte Tänzerin bin und es alten Menschen keinen Spaß macht, sich stundenlang auf dem Laufband zu quälen, habe ich einer Gruppe allein lebender Senioren Tangostunden angeboten“, sagte McKinley. Mit dem ungewöhnlichen Ansatz sollte auch die Sturzgefahr für Senioren verringert werden, daher wählte man zunächst 30 Alte zwischen 62 und 90 Jahren aus, die im Vorjahr mindestens ein Mal hart gefallen waren und die nun Angst vor weiteren Stürzen hatten.
Während die eine Hälfte der freiwilligen Versuchsteilnehmer über zehn Wochen hinweg zwei mal wöchentlich je zwei Stunden Tangounterricht bei einem professionellen Lehrer erhielt, schickte man die andere Hälfte zu Vergleichszwecken in die städtischen Grünanlagen spazieren.
Vor Beginn und nach Ende der zehn Wochen absolvierten die Senioren eine Reihe schwieriger Tests für Gedächtnis, Balance und Beweglichkeit. Beispielsweise mußten die Teilnehmer möglichst lange auf einem Bein stehen, sich auf engem Raum drehen oder im Laufen das Alphabet aufsagen und bei jedem Schritt einen Buchstaben überspringen.
Es zeigte sich, daß die Tänzer gegenüber den Spaziergängern sowohl ihre Balance und Körperhaltung als auch die Koordination eindeutig verbesserten. „Die Angst, einen weiteren Sturz zu erleiden, war einem neuen Selbstvertrauen gewichen“, so McKinley. Bei den geistigen Übungen schnitten die Tänzer ebenfalls besser ab, wenn auch der Unterschied bei den Gedächtnistests nicht groß genug war, um die Überlegenheit der Tangostunden gegenüber den Spaziergängen eindeutig zu belegen.
Letztlich sei der Tangotanz eine geschickt getarnte Übung, erklärt sich McKinley ihren Erfolg: „Erst kamen die Leute im Trainingsanzug, dann wurden die Herren eleganter und die Frauen begannen, sich zu schminken und Schmuck anzulegen“. Die meisten hätten weitere Lehrstunden sogar aus eigener Tasche bezahlt.
Vagusnerv-Stimulation gegen Bulimie
Neben der anhaltenden Erforschung und Entwicklung neuer Wirkstoffe und psychologischen Therapieansätzen erobert auch die Neurochirurgie weitere Anwendungsgebiete. So konnte die Psychiaterin Patricia Faris von der Universität Minnesota in Minneapolis von einer – allerdings nicht plazebokontrollierten – Pilotstudie berichten, bei der die Stimulation des Vagusnerves erstmals erfolgreich gegen die Bulimie zum Einsatz kam.
Einige der zehn austherapierten Patientinnen mit durchschnittlich 23 Eß- und Brechattacken pro Woche litten seit mehr als 20 Jahren an der Krankheit. „Bei diesen wirklich schweren Fällen schien es uns gerechtfertigt, die Implantation eines Nervenstimulators zu erproben“, erläuterte Jessica Cici, aus der Arbeitsgruppe von Faris. Allen Teilnehmerinnen wurde deshalb ein etwa 12000 Dollar teures Gerät der Firma Cyberonics in der linken Brust unterhalb des Schlüsselbeins implantiert. Ausgehend von einem Taktgeber, der durch die Haut hindurch programmiert werden kann, wurden dabei mehrere drahtförmige Elektroden um einen bestimmten Bereich des linken Vagusnervs herumgewickelt. Schließlich ermittelten die Ärzte eine optimale Folge elektrischer Reize, mit der sie hofften, den ihrer Theorie nach überaktiven Vagusnerv auf ein normales Maß dämpften.
Zwölf Wochen nach dem Eingriff waren fünf der zehn Patientinnen von ihren Eß- und Brechattacken vollständig befreit. Bei den anderen traten die Anfälle deutlich seltener auf – insgesamt wurde die Zahl der Attacken um 90 Prozent vermindert. Einige Patientinnen hätten sich nach dem Eingriff „ein bißchen unwohl“ gefühlt, sagte Cici. Als Nebenwirkung seien vorübergehende Heiserkeit und Atemschwierigkeiten aufgetreten, sowie ein Kitzeln in der Kehle und ein flaues Gefühl im Magen.
Ein Schönheitschirurg hatte dafür gesorgt, daß bei dem Eingriff lediglich eine kaum sichtbare Narbe im Dekolleté zurückblieb. Nach dem erfolgreichen Abschluß dieser Pilotstudie soll der Vagusnerv-Stimulator nun an 100 weiteren Patientinnen in mehreren US-Kliniken erprobt werden. „Wir hoffen, dann eine Erlaubnis der Zulassungsbehörde FDA zu bekommen, um das System zur Behandlung der Bulimie einzusetzen“, sagte Faris.
Daß die Vagusnerv-Stimulation einmal zur Standardbehandlung gegen die Bulimie werden könnte, glaubt die Forscherin aber nicht: Neben den 12000 Dollar für das Gerät schlugen nämlich die Operation und die Krankenhauskosten mit 30000 Dollar pro Patientin zu Buche.
[Bei dem Text handelt es sich um die “Laienversion” eines Kongreßberichtes, den ich für DNP (Der Neurologe und Psychiater) erstellt habe]
Quellen / Abstracts der zitierten Studien:
- S. Black, G. Wilcock, J. Haworth, S. Hendrix, K. Zavitz, M. Binger, J. Roch, M. Laughlin, E. Swabb, A. Hobden. A PLACEBO-CONTROLLED, DOUBLE-BLIND TRIAL OF THE SELECTIVE A42-LOWERING AGENT FLURIZAN IN PATIENTS WITH MILD TO MODERATE ALZHEIMERS DISEASE: EFFICACY, SAFETY, AND FOLLOW-ON STUDY RESULTS Program No. 586.6. 2005 Abstract Viewer/Itinerary Planner. Washington, DC: Society for Neuroscience, 2005. Online
- A.C. Jacobson, P.A. McKinley, A. Leroux, C. Rainville. ARGENTINE TANGO DANCING AS AN EFFECTIVE MEANS FOR IMPROVING COGNITION AND COMPLEX TASK PERFORMANCE IN AT-RISK ELDERLY: A FEASIBILITY STUDY Program No. 757.7. 2005 Abstract Viewer/Itinerary Planner. Washington, DC: Society for Neuroscience, 2005. Online
- P.L. Faris, E.D. Eckert, R.S. Daughters, L.R. Iversen, K. Borgen, J.M. Cici, C. Adams-Merrill, R.E. Maxwell, B.K. Hartman. VAGUS NERVE STIMULATION THERAPY IN SEVERE BULIMIA NERVOSA Program No. 529.8. 2005 Abstract Viewer/Itinerary Planner. Washington, DC: Society for Neuroscience, 2005. Online.]
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