Der Prinzessin Yasmin Aga Khan war feierlich zumute: Sie sprach von einem “monumentalen Schritt” und von der Hoffnung auf den Sieg über eine heimtückische Krankheit. Höhepunkt der Zeremonie an der altehrwürdigen Universität Edinburgh war am Mittwoch vergangener Woche die Proklamation des ersten “Welt-Alzheimer-Tages” durch den Internationalen Dachverband der Selbsthilfegruppen und den Vertreter der Weltgesundheitsorganisation (WHO), José Manuel Bertolote.
Als der deutsche Neurologe Alois Alzheimer 1907 erstmals “Ueber eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde” berichtete, hat er sich wohl kaum vorstellen können, welche gesellschaftliche Bedeutung das nach ihm benannte Leiden einmal erlangen würde. Über 15 Millionen Menschen sind weltweit von dem noch immer unheilbaren Hirnzerfall betroffen – je höher das Alter, desto größer die Erkrankungswahrscheinlichkeit. Etwa drei Prozent der 65- bis 74jährigen und fast die Hälfte aller Menschen jenseits des 85. Lebensjahres leiden an der Alzheimerschen Krankheit, schätzt die Altersforscherin Marzia Baldereschi von der Universität Florenz. Und Konrad Bayreuther, Leiter einer zwanzigköpfigen Arbeitsgruppe am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg, ist sich gar sicher: “Wir alle bekommen Alzheimer, wenn wir nur alt genug werden.”
Die Ursachen des fortschreitenden Hirnzerfalls sind trotz großer Fortschritte in der Grundlagenforschung noch ungeklärt, sinnvolle vorbeugende Maßnahmen gibt es ebenso wenig wie eine “Pille gegen Alzheimer”. Bereits bei der Diagnose treffen die Ärzte auf Schwierigkeiten. Die Abgrenzung von den Folgen eines Hirnschlages etwa oder von anderen, oft altersbedingten Hirnleistungsstörungen (Demenzen) gelingt selbst bei sorgfältigsten Untersuchungen “nur” in neun von zehn Fällen. Vergeßlichkeit und Verwirrung, das Nichterkennen von Gerüchen und Gesichtern – einschließlich des eigenen Spiegelbildes – zählen zu den Merkmalen, die Psychiater als Warnzeichen nennen. Auch wenn “Worte auf der Zunge liegen” und Objekte immer seltener mit Namen bezeichnet werden können, ist Wachsamkeit geboten.
Letzte Klarheit bringt erst eine mikroskopische Analyse des Hirngewebes nach dem Tod des Patienten. Charakteristisch sind neben der schwammartigen Struktur ganzer Hirnregionen die mit speziellen Farbtechniken sichtbar gemachten so genannten amyloiden Plaques. Diese zwischen den Zellen liegenden “Müllhaufen” bestehen zum größten Teil aus einem Eiweiß (APP) und einem seiner Abbauprodukte, dem Beta-A4-Protein. Nicht außerhalb, sondern im Innern von Nervenzellen, finden sich die faserförmigen, neurofibrillären Bündel, eine Anhäufung von Bruchteilen des Zellskeletts. Seit langem tobt unter Wissenschaftlern ein Streit, ob die amyloiden Plaques und neurofibrillären Bündel Ursache oder Folge der Erkrankung sind. Diese Debatte ist nicht nur theoretischer Natur, denn nur wenn die Art der Fehlfunktion bekannt ist, lassen sich gezielt neue Medikamente entwickeln.
Der Biochemiker Khalid Iqbal vom New York Medical College ist sich mit vielen seiner Kollegen darin einig, daß die Ablagerung von amyloiden Plaques nicht die alleinige Ursache der Alzheimerschen Krankheit sein kann. Auch bei Gesunden finden sich nämlich mitunter Plaques im Gehirn, manchmal sogar mehr als bei verstorbenen Patienten. Schon Alois Alzheimer erkannte, daß zwischen der Gedächtnisleistung und der Zahl der Plaques keine eindeutige Beziehung besteht.
Iqbal ist der Ansicht, daß der langsame Zerfall von Nervenzellgruppen von größerer Bedeutung für die Krankheitsentstehung ist. Dabei sterben nicht alle Neuronen ab. Die Ausschüttung von Botenstoffen an den Verbindungsstellen zwischen den Zellen – den Synapsen – ist bei Alzheimer-Kranken zwar reduziert, es findet sich aber noch immer eine beträchtliche Menge an Signalsubstanzen in den Vorratsbehältern (Vesikeln) der Zelle. “Dies ist ein extrem wichtiger Punkt, weil mit einem geeigneten Medikament die meisten Funktionen wiederhergestellt werden könnten, selbst bei Patienten in fortgeschrittenem Stadium”, gibt sich Iqbal optimistisch. Der Biochemiker setzt auf die Reparatur des Transportsystems, mit dem die Vesikel vom Zentrum der Zelle zu den Synapsen gebracht werden. Als Gleise nutzt diese intrazelluläre Eisenbahn langgestreckte Moleküle, die sogenannten Mikrotubuli. Ihr Aufbau wird von einem Eiweiß gesteuert, dem Tau- Protein, dessen Aktivität wiederum durch das Anhängen von Phosphatgruppen reguliert wird
Iqbals Arbeitsgruppe hat nun herausgefunden, daß die Tau-Proteine in den neurofibrillären Bündeln von Alzheimer- Patienten zu viele dieser Phospatgruppen tragen und dadurch die Mikrotubuli zerbrechen (Proceedings of the National Academy of Sciences, Bd. 91, S. 5562, 1994). Enzyme, welche die überschüssigen Phosphatgruppen wieder abspalten, “könnten deshalb die Basis für Medikamente der zweiten Generation sein”, sagte Iqbal auf einem Workshop des Pharmaherstellers Parke-Davis in Edinburgh.
Solange diese Arzneimittel nur in den Köpfen einiger Wissenschaftler existieren, werden Alzheimer-Patienten allerdings auf Arzneien angewiesen sein, welche lediglich die Begleiterscheinungen der Krankheit zu mildern vermögen. Das verheerende Leiden führt bei mindestens zwei Drittel der Betroffenen zu Persönlichkeitsstörungen in Form von Unruhe oder Apathie. Auch schwere Depressionen, Halluzinationen und Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus sind so häufig, daß Ärzte und Angehörige gezwungen sind, auf eine ganze Palette von Psychopharmaka zurückzugreifen.
Ein Silberstreif am Horizont sind jene rund 25 verschiedenen Arzneien, die gegenwärtig weltweit erprobt werden, vorwiegend mit dem Ziel, den Botenstoffwechsel der geschädigten Nervenzellen möglichst lange aufrechtzuerhalten. Erst eines dieser Medikamente, der Wirkstoff Tacrin, wurde von den amerikanischen Arzneimittelbehörden unter dem Markennamen “Cognex” zugelassen und könnte Mitte nächsten Jahres auch hierzulande auf den Markt kommen.
Allerdings räumt selbst die Herstellerfirma Parke-Davis ein, mit Tacrin kein Wundermittel entwickelt zu haben. Die Substanz wirkt am synaptischen Spalt, jener hauchdünnen Grenze, welche die Nervenzellen voneinander trennt. Der dort ausgeschüttete Botenstoff Acetylcholin, der Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übermittelt, wird normalerweise schnell wieder durch ein Enzym abgebaut und recycelt. “Das letzte, was wir an dieser Stelle brauchen, ist ein Enzym, welches das verbleibende bißchen Botenstoff auch noch auffrißt”, erläuterte Paul R. Solomon vom Williams College im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts. Tacrin hemmt dieses Enzym (Acetylcholinesterase) und kann damit den Verlauf der Erkrankung zumindest verzögern.
Unter Solomons Leitung nahmen fast 700 Patienten an einer Studie teil, bei der über einen Zeitraum von einem halben Jahr verschiedene Dosen von Tacrin oder aber ein Scheinmedikament verabreicht wurden (Journal of the American Medical Association, Bd. 271, S. 985, 1994). Das bescheidene Ziel, den geistigen Zerfall der Patienten zu verlangsamen, wurde zwar mit der höchsten Dosis an Tacrin erreicht, die Nebenwirkungen waren allerdings so gravierend, daß drei Viertel der Patienten die Studie abbrechen mußten. Wird die Arznei jedoch in der Höchstdosis vertragen, so läßt sich mit verschiedenen psychologischen Testverfahren eine vorübergehende Besserung registrieren. Nach etwa einem Jahr sind die Gedächtnisleistungen dieser Patienten dann wieder auf dem Ausgangsniveau und sinken weiter ab.
Joachim Bauer, Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg, ist von dieser Bilanz wenig begeistert: “Den Leuten wird übel, sie erbrechen sich in der Praxis, bekommen Durchfall, und mitunter kommt es sogar zum Absterben von Leberzellen.” Parke-Davis betreibe eine “völlig unverantwortliche” Politik und werde “noch eine große Bauchlandung erleben”, erregt sich der Universitätsprofessor.
Weder für die vielgelobten “Radikalfänger” – sprich Vitamin C, E und Beta- Carotin – noch für die bei Demenzerkrankungen mit am häufigsten verschriebenen Gingko-Präparate gibt es nach Ansicht von Bauer eindeutige Wirkungsnachweise bei Alzheimer-Patienten. Genetische Faktoren spielen seiner Ansicht nach nur eine untergeordnete Rolle. Auch die Suche nach Umweltgiften wie Aluminium, die immer wieder als Auslöser verdächtigt werden, blieb bisher erfolglos.
Angesichts dieser eher frustrierenden Lage fahnden Epidemiologen fieberhaft nach Faktoren, die das Erkrankungsrisiko verringern können. Dabei stieß man auf die erstaunliche Tatsache, daß Raucher seltener an Alzheimer leiden. Bei Tom Scarlata, Manager der Produktplanung bei Parke-Davis, stößt diese Methode der Prävention indes auf wenig Begeisterung: “Wer viel raucht und trinkt, stirbt so früh, daß er gar keine Chance hat, an Alzheimer zu erkranken.”